Geschlüpft am Dümmer, geschossen in Frankreich - das kurze Leben eines Kiebitz
Christopher Marlow beringt Wiesenvögel im Rahmen des Projekts GrassBirdHabitats der Staatlichen Vogelschutzwarte Niedersachsen im NLWKN. Einer davon, ein Kiebitzküken am Dümmer, hatte im Frühjahr 2023 die kritischen ersten Lebenstage gemeistert, war bei der Beringung am 22. Mai 2023 in guter körperlicher Verfassung und etwa 26 Tage alt. Der Vogel wurde im Ochsenmoor flügge und zog im Sommer, wahrscheinlich mit einigen Artgenossen, in Richtung Winterquartier. Doch schon am 23. September wurde der Kiebitz mit der Ringnummer 64 20 421 in Nordfrankreich legal geschossen. Denn in Frankreich ist die Jagd auf Kiebitze und viele andere Arten, die in weiten Teilen Europas geschützt werden, nach wie vor erlaubt. „Das verdeutlicht, wie wichtig ein umfassender Schutz von Vogelarten über deren Brutgebiete hinaus tatsächlich ist“, erklärt Dr. Markus Nipkow, Leiter der Staatlichen Vogelschutzwarte Niedersachsen im NLWKN.
Die Koordinaten des gefundenen Kiebitzes bezeichnen ein kleines Dorf etwa 150 Kilometer nördlich von Paris. Die Umgebung ist von Landwirtschaft geprägt, aber das Flüsschen vor Ort ist umgeben von Auenstrukturen mit vielen offenen Wasserflächen - offenbar ein gutes Rastgebiet für durchziehende Kiebitze. Für den Kiebitz endete hier seine Reise und sein Leben. Dass das kein Einzelfall ist, berichtet Olaf Geiter, Leiter der Beringungszentrale in der Vogelwarte Helgoland. Bei ihm seien in den letzten zehn Jahren einige Meldungen aus Frankreich eingegangen.Die Dunkelziffer nicht gemeldeter, geschossener Kiebitze, die individuell beringt sind, dürfte aber deutlich höher liegen. In fünf EU-Ländern dürfen Kiebitze noch legal bejagt werden. Der Naturschutzverband „Komitee gegen den Vogelmord e.V.“ recherchiert seit Jahren Abschusszahlen an Zugvögeln. Artgenaue Zahlen liegen aus Frankreich, Malta und Spanien vor. Demnach wurden in der Jagdsaison 2013/2014 in den drei genannten Staaten 107.802 Kiebitze geschossen. Allein in Frankreich wurden 96.361 Vögel getötet. Aktuellere Zahlen sind nicht verfügbar.
Niedersachsen ist das wichtigste Wiesenvogelland Deutschlands. Die hiesigen Brutbestände machen einen hohen Anteil der gesamtdeutschen Population aus. „Daraus resultiert eine besondere Verantwortung für deren Schutz, nicht nur in Deutschland, sondern auch in ganz Europa und in den Überwinterungsgebieten“, sagt Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer. „Während wir zeigen, dass mit Projekten wie dem „GrassBirdHabitats“ durch gezielte Maßnahmen bedrohte Wiesenvogelarten geschützt und gestärkt werden können, werden die Tiere etwa in Frankreich weiterhin großflächig bejagt. Die Jagd auf Zugvögel gefährdet damit die aufwendigen und kostenintensiven Schutzbemühungen des NLWKN. Die Jagd auf gefährdete Zugvögel im Mittelmeerraum gehört abgeschafft.“
Der ehemals in nahezu allen offenen Landschaften Deutschlands häufige Kiebitz gilt mit seinen kaum noch 50.000 Brutpaaren in Deutschland inzwischen laut Roter Liste als „stark gefährdet“. Trotzdem werden in der EU jährlich ungefähr genauso viele Kiebitze geschossen und damit die hiesigen Schutzbemühungen ebenso wie die in anderen Ländern untergraben.
Hilger Lemke, Mitarbeiter im LIFE Projekt GrassBirdHabitats und Gebietsbetreuer an der Naturschutzstation Unterelbe im gleichnamigen Vogelschutzgebiet, weiß um die Bedeutung solcher Verluste: „Die hohe Anzahl der Abschüsse macht einem Sorgen und erschwert die Erholung der Brutpaarzahlen. Das Wichtigste bleibt aber die Sicherstellung einer nachhaltigen Fortpflanzung der Population und damit die Wiederherstellung der Bruthabitate innerhalb und außerhalb der Schutzgebiete.“ Die französische Jagdstrecke ist in den letzten 20 Jahren der französischen Verwaltung zwar um mehr als 75 Prozent zurückgegangen, doch fragen sich Naturschützer in Deutschland, wann die Jagd auf Zugvögel in Frankreich endgültig und vollständig verboten wird.
Die Gruppe der Wiesenvögel zählt in Niedersachsen zu den am stärksten gefährdeten unter allen Vögeln. In der Roten Liste Deutschlands gelten Brachvogel, Uferschnepfe, Kampfläufer, Alpenstrandläufer und Bekassine bereits als „vom Aussterben bedroht“. Landesweit wurden 2020 gerade noch 20.000 Kiebitzpaare festgestellt. Damit hat die Art seit den 1980er Jahren mehr als 80 Prozent ihres Brutbestands verloren. Deutschlandweit ist die Zahl brütender Kiebitze seitdem sogar um 93 Prozent zurückgegangen. Hauptursache ist und bleibt der Verlust ihrer Lebensräume durch eine immer intensivere landwirtschaftliche Nutzung, vor allem durch die Entwässerung, aber auch die Überbauung von Nahrungsflächen und Brutgebieten. Hinzu kommt die Prädation, also der Verlust von Gelegen, Küken und Altvögeln durch Beutegreifer, und eben die Bejagung in den Rast- und Überwinterungsgebieten. Alle diese Ursachen tragen in signifikantem Ausmaß zum Rückgang der Art bei. Nicht zuletzt, um auf diese entscheidenden Gefahren hinzuweisen, wurde der Kiebitz zum Vogel des Jahres 2024 gewählt.
Das LIFE IP-Projekt „GrassBirdHabitats“ läuft über zehn Jahre und hat ein Fördervolumen von 27 Millionen Euro. Das Land Niedersachsen ist mit einem zweistelligen Millionenbetrag an der Förderung beteiligt. Neben der Finanzierung von konkreten Maßnahmen werden im Rahmen des Projektes über 40 Arbeitsplätze finanziert.
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