Tidepolder an der Schelde
Delegation des NLWKN besichtigt Projekte des Sigma-Plans bei Antwerpen
Polder, die (auch) dem Naturschutz dienen: Die entstehen dank dem Masterplan an der Ems, aber es gibt sie auch an der Schelde in Belgien und den Niederlanden. Verantwortlich dafür ist der Sigma-Plan, ursprünglich ein groß angelegtes Vorhaben gegen Überflutungen, das 1977 begann.
Wie man es an der Schelde macht, wo die Gemeinsamkeiten und Unterschiede liegen: Davon machte sich Ende August eine Delegation des NLWKN ein Bild. Die mitgereisten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind in den Bereichen Wasserbau und Küstenschutz, Gewässerkunde und Naturschutz sowie Biologie und Landschaftsplanung für den Masterplan Ems tätig und arbeiten an der Schaffung tidebeeinflusster Lebensräume ebenso wie an der Planung und Betreuung von Wiesenvogelflächen und der Tidesteuerung mit dem Emssperrwerk.
Schelde und Ems
Die Schelde ist ein Fluss, der auf den ersten Blick wenig mit der Ems gemein hat, vor allem, was die Dimensionen angeht: Mit Antwerpen liegt der zweitgrößte Hafen Europas am Strom. Die größten Containerschiffe der Welt fahren von der Nordsee 80 Kilometer den Fluss hinauf, um dort ihre Waren zu löschen. Entsprechend tief wird die Fahrrinne gehalten. Gleichzeitig säumen im Hafen gleich mehrere Raffinerien und viele weitere Industriewerke die Kaimauern. Alles wirkt gewaltiger.
Der Polder Wal-Zwijn
Flussaufwärts von Antwerpen, da wo die Schelde plötzlich schmaler wird und die Wassermassen sich vom weiten in das enge Flussbett zwängen müssen, war früher einer der Hotspots der Überschwemmungen. Menschen kämpften hier, über 100 Kilometer von der Mündung entfernt, mit Sturmfluten vom Meer und Hochwässern aus dem Binnenland. Deichbrüche und überschwemmte Dörfer waren nicht selten. Als eines der insgesamt 14 Bauwerke, die den Flutgefahren vorbeugen sollen, gilt der in Teilen noch im Bau befindliche Polder Waal-Zwijn nahe der Gemeinde Hamme, der aus mehreren Flächen besteht: Das am nächsten zur Schelde gelegene Gebiet wurde ausgedeicht und dem freien Einfluss der Tide überlassen. Hier sind seit der Öffnung vor eineinhalb Jahren auf 25 Hektar ausgedehnte Süßwasserwatten entstanden, von Prielen durchzogen und von den Seiten her bewachsen: so wird auf natürliche Weise eine Flussmarsch entstehen. Der Hauptdeich wurde vom Fluss weit zurückgelegt, um dem Fluss Raum zu geben, und schützt jetzt direkt die Dörfer. Zwischen dem Watt und dem Deich wurde ein Überlaufpolder hergestellt; ihn umgibt ein Deich mit geringerer Höhe, der bei Hochwasser überströmt wird und so den Flusspegel senkt. Das Gebiet ist 140 Hektar groß. Wenn der Flusspegel sinkt, wird das Wasser über Auslassbauwerke wieder hinausgelassen.
Der Überlaufpolder präsentiert sich heute als lebendige Fläche mit einem Priel, ausgedehnten Röhrichtzonen, Staudenfluren und Weidenauwald – alles Biotope, die regelmäßige Überflutungen verkraften und vielfältige Lebensräume bieten, erlebbar durch einen Fuß- und Radweg auf dem Ringdeich. Damit sind alle drei Aspekte erfüllt: Hochwasserschutz, Naturschutz und Naturerleben, wie Max Verdonck, Pressesprecher vom Sigma-Plan, den Gästen während des Rundgangs auf dem Deich um das Gebiet erläutert. Vor allem die technisch gleichzeitig intelligenten und simplen Ein- und Auslassbauwerke gaben den Planerinnen und Planern des NLWKN viele Anregungen für die weiteren Vorhaben an der Ems.Die Polder von Kruibeke
Etwas flussabwärts Richtung Antwerpen liegen die Polder von Kruibeke. Über 600 Hektar erstrecken sich hier Flusswatten, Auwälder, Röhrichte und ein großes Gebiet für Wiesenvögel. Der frühere Schutzdeich am Scheldeufer wurde auf acht Kilometer in der Höhe reduziert, so dass er bei Flutwasserständen überströmt wird und so hilft, den Pegel zu senken. Auf der anderen Seite des Areals wurde auf sechs Kilometern Länge ein höherer Ringdeich gebaut, der die angrenzenden Siedlungen im Hochwasserfall vor dem Wasser schützt.
Bei normalen Wasserständen wird der Polder im nördlichen Bereich durch ein Einlassbauwerk mit der Tide verbunden, das im Polder einen Tidenhub von rund einem Meter schafft – vor dem Deich sind es in der Schelde rund fünf Meter. Das Bauwerk sorgt zudem für eine für das flache Flandern ganz besondere Attraktion: die so genannten Wasserfälle von Kruibeke. Um eine schnelle Verschlickung des Polders zu vermeiden, wird nur die oberste Schicht des Wassers bei Flut in den Polder gelassen; dort befinden sich am wenigsten Schwebstoffe. Deswegen sind einige Meter bis zum Polderniveau zu überwinden, und das wird über drei Stufen erreicht, über die das Wasser zeitweise schäumend und tosend stürzt und dabei viel Sauerstoff in den Polderkanal einbringt.
Im Süden des Bereichs strömt die Tide nicht ein. Hier wird nur bei Hochwasser geflutet, und auch nur auf den Wiesenvogelflächen. Die Auwälder sind von den Fluten entkoppelt. Bei Flutlagen kann aber ein Großteil des Gebietes als Entlastungspolder genutzt werden.
Das Projekt war nicht unumstritten, berichtet Max Verdonck. Vor allem Sicherheitsbedenken kamen auf, aber auch ganz grundsätzlich Ablehnung der Wiederherstellung von natürlichen Lebensräumen auf so großen Flächen war zu spüren. Die Verantwortlichen bauten für die Debatte ein Infozentrum. „Manchmal muss man das Gleiche eben 45 Mal erklären“, so der Pressesprecher. Die Einbeziehung lokaler Naturschützer als „Guides“ für Führungen habe aber auch ein ganzes Stück zur Verständigung beigetragen. Wie in Wal-Zwijn ging es bei den Protesten aber auch darum, dass für die Polder Landwirtschaftsflächen verloren gingen. Und weil beim Sigma-Plan die Sicherheit vor Fluten die Hauptrolle spielt, wurde Land auch durch Enteignung beschafft: „Natürlich gegen angemessene Entschädigung.“ Bei Vorhaben im „Masterplan Ems“ sind Enteignungen hingegen ausgeschlossen.
Der Polder liegt zwischen der Schelde und dem Ort Kruibeke. Und vielleicht hat sich die Lage auch beruhigt, weil der Polder zu einem beliebten Naherholungsgebiet geworden ist. Radfahrer, Skater und Fußgänger sind während des Besuchs der NLWKN-Delegation auf dem Deich unterwegs, genießen den Sommertag und die wechselnden Naturimpressionen, die der Polder bietet. Ein Weg aus Holzbohlen inklusive Brücke führt über den Priel und durch das Röhricht, Wasservögel werden durch Ferngläser beobachtet, Naherholung ist hier wichtig. Denn in Kruibeke – wie an vielen anderen Stellen an der Schelde – wird deutlich, wie nah sich Menschen, Natur und Industrie an der Schelde kommen. Während auf dem einen Ufer die Polderflächen in der Sonne glitzern, befinden sich auf dem anderen Ufer der Schelde ein Kraftwerk, eine Werft und weitere Stätten des produzierenden Gewerbes. Vom Polder Coldemüntje sieht man zwar auch das Papierwerk in Weener, aber wieder stößt man hier auf eine ganz andere Dimension.
Direkt am Wasserfall findet sich übrigens eine Plakette, die daran erinnert, dass das Prinzip, Polder über speziell konstruierte Einlassbauwerke nur mit reduziertem Tidenhub zu betreiben, hier an der Schelde von Professor Patrick Meire von der Universität Antwerpen entwickelt und erstmals umgesetzt wurde. Diese Idee steht auch Pate für die Polderkonstruktionen an der Ems.Burchtse Weel
Wie wichtig dieses Prinzip für den Betrieb von Poldern an schlickführenden Tideflüssen ist, erfuhren die Niedersachsen am Burchtsee Weel, einem Polder direkt gegenüber der Innenstadt von Antwerpen. Das Areal wurde angelegt, um den temporären Verlust von Wattbiotopen bei der Anlage eines weiteren Autotunnels bei Antwerpen auszugleichen. Zu Beginn wurde das Gebiet durch tiefe, offene Kanäle an die Schelde angeschlossen, die dem Flüssigschlick aus den tieferen Schichten des Flusses den Zufluss in den Polder freimachten. Ergebnis: Vier Meter Aufschlickung pro Jahr. Das Gebiet landete komplett auf. Da das nicht das Ziel war, so Max Verdonck, wurden die Ein- und Auslassbauwerke umkonstruiert – nach dem Meire-Modell. Seitdem sei die Sedimentation nahezu bei Null.Bankbuster im Hafen Antwerpen
Endlose Leitungen, Tanks und Crackanlagen von Raffinerien, die Anfahrt führt durch endloses Hafengebiet mit Lagerhäusern, Containerbrücken und -stapeln, durch ein Geflecht von Autobahnen und Gleisen, überall steigt Rauch in den Himmel, es riecht nach Benzin und Schlick: Wohl kaum jemand würde in dieser total überformten Landschaft ein Naturschutzprojekt vermuten. Und doch: Gleich neben der Haltestelle des Waterbus, einer Schnell-Katamaran-Linie durch den Hafen, und direkt gegenüber einer Raffinerie haben Wissenschaftler der Universität Antwerpen ein Versuchsfeld angelegt. Professor Tom Maris von der Universität Antwerpen erläutert den Zweck: Es gehe darum, die ökologische Wirkung von frischem Kleiboden zu erproben. Wenn abgelagerter Schlick durchlässig sei, könne er dem durchströmenden Wasser Nitrat entziehen und es mit Silikat anreichern, das im Wasser das Wachstum von Kieselalgen anregt und fördert – eine wichtige Funktion von Marschböden. Die Forscherinnen und Forscher hätten aber beobachtet, dass abgelagerter Schlick schnell fest werde und das Wasser ihn nicht durchströme. Damit gehe auch die biochemische Wirkung verloren. Hier habe man nun den Boden, der von Weidenflechtwerk gegen Erosion geschützt werde, mit Holzspänen durchmischt, um diesen mit organischem Material anzureichern und damit das Porenvolumen zu vergrößern. Zahlreiche Messgeräte und Sonden sollen nun festhalten, ob die dadurch erreichte Porosität von Dauer sei. Maris geht auch auf die Nähe zur Raffinerie ein; das Management plane Erweiterungen, müsse aber u.a. nachweisen, dass die zusätzlichen Nitratmengen aufgefangen würden. Auch deswegen beobachte die Industrie die Forschungen aufmerksam und setze Hoffnungen auf die Bodenanalysen. Zugleich wolle man durch die Weidenbefestigungen austesten, wie sich der Boden am Ufer halten lasse. Der schnelle Katamaran-Waterbus sorge nämlich trotz seiner guten Ökobilanz (weil er Landbuslinien und Autoverkehr ersetzt) für einen so hohen Wellenschlag, dass ökologisch wichtige Marschufer erodieren.
Hedwige Polder und Prosper Polder
Nur ein paar Kilometer flussabwärts von Antwerpen liegen die Polder Hedwige und Prosper; 495 Hektar Überschwemmungsgebiet, das 2023 fertiggestellt wurde; zu sehen sind hier ganz frische Wattflächen, deren Verlandung an den Rändern gerade beginnt. Algen und erste salzresistente Pflanzen als Pioniere; langsam entstehen Inseln im Schlick. Mittendrin die belgisch-niederländische Grenze. Auf belgischer Seite sorgt ein Kanal durch den Deich für die Öffnung zur Tide, auf der niederländischen Seite wurde der Deich komplett geschleift. Das Material, das bei der Tieferlegung des Geländes anfiel, wurde zur Errichtung eines neun Meter hohen Deiches um den Polder und eines Aussichtshügels für „Sehleute“ genutzt. Von den ersten Planungen bis zur Fertigstellung vergingen 15 Jahre. Das lag unter anderem an dem großen Widerstand in den Niederlanden. Laut Tom Maris hatte das etwas damit zu tun, dass in den Niederlanden seit den 50er Jahren Deiche und Einpolderung das Mittel der Wahl gegen die Mächte des Wassers waren. Nun ein Gebiet zu öffnen, widersprach allen Erfahrungen. Die nun dem Fluss entnommene Wassermenge schützte vor allem die Oberlieger am Fluss – also die Belgier. Hinzu kam, dass der Polderbau viele landwirtschaftliche Flächen kostete.
Damit gab es hier schon generationenübergreifende Erfahrungen. Im Norden von Hedwige und Prosper liegt das "Verdronken Land van Saeftinghe“. Dieses Areal war einst eingepoldert, es gab Landwirtschaft und viele Siedlungen. Im 16. Jahrhundert, im Befreiungskrieg der Niederlande gegen die spanische Besetzung, durchstachen die niederländischen Rebellen die Deiche von Saefthinge aus militärischen Gründen. Alle neuen Einpolderungsversuche scheiterten.
Das Gebiet, heute das größte Salzwiesengebiet Europas, umfasst 3580 Hektar und besteht aus Watten und Salzwiesen mit zahlreichen Prielen. Der Unterschied zwischen Flut und Ebbe beträgt am höchsten Punkt des Geländes durchschnittlich 4,80 Meter, bei Springflut kann der Unterschied bis zu sieben Meter betragen. Der Gezeitenunterschied ist der größte in den Niederlanden. Ein Informationszentrum und Bohlenwege machen das Gebiet in Teilen für den Menschen zugänglich. Die Macher des Sigma-Plans sehen das Versunkene Land auch als riesiges Quellbiotop, aus dem die neuen Polder besiedelt werden. Hier gab es für den Besuch aus Niedersachsen noch ein ornithologisches Highlight. Es konnten zwei Cistensänger beobachtet werden. Dieser kleine unscheinbare Singvogel brütet verbreitet im Mittelmeerraum und hat sein Brutgebiet schrittweise nach Norden ausgedehnt. Der erste Brutnachweis in den Niederlanden gelang bereits 1972. Je nach Strenge des Winters erleiden die Bestände starke Einbrüche; in klimatisch günstigen Phasen finden weitere Ausdehnungen des Brutgebietes statt. So wurde 2020 das erste Brutpaar in Deutschland (Saarland) festgestellt. 2023 und 2024 konnten auch an der Außenems Cistensänger beobachtet werden.
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