Dem verhängnisvollen „Bett“ im Kornfeld auf der Spur
Wo weilt die Wiesenweihe? Naturschützer und Landwirte arbeiten bei der Rettung des seltenen Bodenbrüters vor dem Mähtod Hand in Hand
Norden/Hannover.. Wenn Stefan Beilke von einem erfolgreichen Tag auf dem Feld nach Hause kommt, hat er keine Ernte eingefahren, kein Korn gedroschen und keine Saat ausgebracht. Dafür hat der Mitarbeiter des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz (NLWKN) – wenn alles optimal läuft – wertvolle Bestände der seltenen Wiesenweihe vor dem Mähtod bewahrt. Denn nicht nur Rehkitze fallen regelmäßig modernen Großflächenmähwerken zum Opfer. Eine Reportage vom Feldrand.
Es ist neun Uhr vormittags, als Stefan Beilke von der noch jungen NLWKN-Naturschutzstation Wendland-Drawehn (Landkreis Lüchow-Dannenberg) auf einem goldgelben Gerstenfeld irgendwo im Osten Niedersachsens seinen geschulten Blick schweifen lässt. Scheinbar gottverlassen steht der 60-Jährige bis zur Hüfte im Korn – Korn, das nur einen Tag später schon im Silo eines nahegelegenen Hofes landen soll. Ein Knistern auf Kanal drei, ein kurzes Rauschen, dann eine vertraute Stimme über Walkie-Talkie: „Stefan, Du bist etwa zwei Meter zu weit westlich“. Der Mann, zu dem die trotz Funkübertragung immer noch sonore Stimme gehört, heißt Manfred Schaaf. Der pensionierte Landmaschinenmechaniker ist Mitglied der Avifaunistischen Arbeitsgemeinschaft Lüchow-Dannenberg e.V.. Er steht rund drei Fußballfeldlängen entfernt am Kofferraum eines blauen Kombis. Auch Schaaf lässt den Blick schweifen – wenn auch nur indirekt: Mit einer sanften Drehbewegung justiert er immer wieder die Optik seines Spektivs nach, erst auf den halb im Kornfeld verschwundenen Kollegen, dann wieder auf jene hochgewachsene Eiche, die einige hundert Meter weiter hinten am Horizont aufragt und bei der heutigen Suche als Peilmarke dient.
Wonach beide Männer, jeder auf seine Weise, Ausschau halten, ist rund 50 Zentimeter klein und hat eine in der modernen Welt mitunter fatale Angewohnheit: Denn die Wiesenweihe, ein Greifvogel aus der Familie der Habichte, bevorzugt bereits seit einigen Jahrzehnten bei der Brut Getreidefelder, seit ihre von Röhricht und Schilfrohr geprägten natürlichen Lebensräume in Mitteleuropa weitgehend zerstört sind. In Niedersachsen brüten heute regelmäßig rund 100 Paare dieser streng geschützten Art, überwiegend verteilt auf drei Verbreitungsschwerpunkte. Einer davon befindet sich seit Langem mit durchschnittlich rund zehn Paaren im Landkreis Lüchow-Dannenberg – und damit im Einsatzgebiet von Stefan Beilke und Manfred Schaaf.
Die beiden Naturschützer sind an diesem warmen Frühsommermorgen im Einsatz, um Neststandorte zu markieren und sie so vor der Zerstörung durch Erntemaschinen zu bewahren. Hierfür müssen die Brutplätze der Wiesenweihe per Linienpeilung lokalisiert und zusammen mit den Landbewirtschaftern gesichert werden. Neben Fernglas und Spektiv, dessen Fokus inzwischen wieder ganz auf Stefan Beilke ruht, ist eine infrarotfähige Drohne dabei ein weiteres wichtiges Werkzeug. „Mit ihr lässt sich später die Situation in bereits ausfindig gemachten und markierten Nestern aus der Luft kontrollieren“, erklärt Manfred Schaaf.
Während der ehrenamtliche Mitarbeiter im Wiesenweihen-Schutz das Feld aus der Ferne im Blick hat, kämpft sich Stefan Beilke mit vorsichtigen Schritten weiter durch die erntereife Gerste vor. Die Einsätze der beiden Männer, denen anzumerken ist, dass sie längst ein eingespieltes Team geworden sind, sie folgen einem festen Muster: Erst ein Knistern im Funkgerät – wenig später knistert es erneut, diesmal unter den Schuhen von Beilke, der sich, mit mehreren mannshohen Holzstangen ausgestattet , Meter für Meter auf möglichst gerade Linie durch das Kornfeld vorarbeitet. Dies alles, um ein anderes, ein in der Regel überhörtes, ein fatales letztes Knistern zu verhindern: Das Knistern, wenn ein Gelege der Wiesenweihe, die sich zur Balz und Brut in Niedersachsens Kornfeldern niederlässt, von einem Mähdrescher im Bruchteil einer Sekunde vernichtet wird.
Keine Chance gegen moderne Landmaschinen
„Gegen moderne landwirtschaftliche Maschinen mit einer Arbeitsbreite von zehn Metern und mehr haben Bodenbrüter wie die Wiesenweihe keine Chance“, betont Beilke, der zugleich die gute Zusammenarbeit mit den Landwirten lobt: „Hier erleben wir in der Regel sehr viel Verständnis und Kooperationsbereitschaft“. 2024 rückten die Naturschützer dabei bereits besonders früh zu ihren gemeinsamen Rettungseinsätzen aus, denn nicht nur die Ernte selbst bedroht den Bruterfolg der Wiesenweihe. „Aufgrund der langanhaltenden Trockenheit Anfang Mai musste die Gerste vielerorts beregnet werden. Dies erforderte eine noch frühere Suche der Nester, um sie vor der intensiven Beregnung, die in der Regel zur Nestaufgabe führt, zu schützen“, erklärt Manfred Schaaf, während sein Blick weiter gebannt dem im Kornfeld halb verschwundenen Kollegen folgt.
Noch drei Schritte, dann: ein dünnes „pii-ii“. Und nochmal: „pii-ii“, irgendwo von rechts. Der von Jungvögeln der Wiesenweihe gern genutzte Hunger-Ruf, er ist ein untrügliches Zeichen: Beilke ist seinem Ziel, dem zweiten Horst der Wiesenweihe in diesem Kornfeld, ganz nah. Die Jungvögel im Nest sind bereits geschlüpft. Sie halten sich nun noch gut drei bis vier Wochen in Nestnähe auf, wo sie mit Nahrung versorgt werden. Noch ein paar Meter, dann steckt der Naturschützer eine der mitgebrachten, mit grüner Farbe markierten und damit hoffentlich weithin sichtbaren Holzstangen in die Erde. Wurde ein Nest auf diese Weise erfolgreich vor landwirtschaftlichen Maschinen geschützt, ist der weitere Bruterfolg der Wiesenweihen vor allem vom Nahrungsangebot abhängig. Mäuse, aber auch Kleinvögel und Großinsekten stehen auf dem Speiseplan der Bodenbrüter, deren Muttertier bereits wieder aufmerksam über dem Gerstenfeld kreist.
Für Stefan Beilke und Manfred Schaaf ist mit der gerade vorgenommenen Markierung der Einsatz auf diesem Kornfeld nach rund einer Stunde fast abgeschlossen. Morgen wird die Ernte eingefahren. Schnell stellen die beiden Naturschützer noch einen mobilen Zaun zum Schutz vor Prädatoren wie Füchsen auf. Ob ihre Anstrengungen von Erfolg gekrönt sein werden, wird sich erst etwas später zeigen. Über den weiteren Verlauf und das Ergebnis der diesjährigen Wiesenweihen-Brutsaison in ihrem Gebiet mit aktuell zwölf Paaren werden sie voraussichtlich im August im Blog der niedersächsischen Naturschutzstationen informieren (www.nlwkn.niedersachsen.de/naturschutzvorort).
Hintergrundinformation:
Der Wiesenweihen-Schutz wird in Niedersachsen durch die Staatliche Vogelschutzwarte im NLWKN koordiniert. Über die Wiesenweihe und die Schutzbemühungen rund um diese Art ist ein Flyer des NLWKN erschienen, vgl. www.nlwkn.niedersachsen.de/naturschutz/naturschutz-im-nlwkn-42197.html
Die Naturschutzstation Wendland–Drawehn wurde 2022 eingerichtet und ist die staatlich getragene Säule der „Kooperativen Naturschutzstation Wendland–Drawehn“. Die zweite – verbandliche getragene – Säule der Kooperativen Naturschutzstation wird als Ökologische Station vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Landesverband Niedersachsen e.V. getragen. Die Naturschutzstation des NLWKN arbeitet eng mit der unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Lüchow-Dannenberg sowie mit zahlreichen weiteren regionalen Akteuren zusammen.Alle Bilder zum Download:
https://nlwkn.hannit-share.de/index.php/s/T897Ln9XjeMycgX
Passwort: Wiesenweihe2024